Audiorundgang in Zitaten
In der gegenwärtigen Debatte um akademische Redefreiheit nehmen vor allem zwei Begriffe eine besondere Stellung ein: Jene der Wissenschaftsfreiheit und der Meinungsfreiheit. Beide Freiheiten haben eine lange ideengeschichtliche Tradition und sind in Deutschland auch rechtlich durch das Grundgesetz verbürgt. Auffällig im derzeitigen Streitgeschehen ist, dass einerseits um die Konturen der Begriffe gestritten wird. Wie ist die eine oder die andere Freiheit zu verstehen? Haben sie Grenzen und wenn ja, wo verlaufen diese? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Freiheiten? Andererseits wird auch darum gerungen, welcher Begriff geeignet ist, um das zu beschreiben, worüber gerade eigentlich gestritten wird. Einen ersten Eindruck davon, welche Fragen für die derzeitige Debattenlage wichtig sind, lässt sich anhand eines kleinen Rundgangs in Zitaten gewinnen.
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Screencast: Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit – Rechtliche und ideengeschichtliche Perspektiven
Herzlich Willkommen zu dieser kurzen Präsentation, in der wir Ihnen in einen Überblick über die Meinungsfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit geben wollen. Im Folgenden soll es um die rechtlichen Aspekte der beiden Freiheiten, wie auch um ihre ideengeschichtlichen Hintergründe gehen. Anhand des deutschen Grundgesetzes und ausgewählten philosophischen Positionen, wollen wir einen Blick auf den Geltungsbereich der jeweiligen rechtlichen Bestimmung werfen und sich daraus ergebende Fragen aufzeigen. Beginnen werden wir mit der Meinungsfreiheit, bevor wir die Freiheit der Wissenschaft näher beleuchten.
Das Recht, seine Meinung frei zu äußern, gehört zu den rechtlichen und ideellen Grundlagen freiheitlicher Demokratien. In Deutschland gehört die Meinungsfreiheit zu den Grundrechten und ist durch den ersten Abschnitt des fünften Paragraphen im Grundgesetz rechtlich verbürgt. Hier heißt es:
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“
Die Idee, dass ein jede und jeder ‚seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei äußern‘ können muss, ist nicht erst mit dem Ende des Nationalsozialismus, in dessen Nachfolge das Grundgesetz verabschiedet wurde, von Bedeutung für demokratisch verfasste Staaten. Sie kann – so wird sich im Folgenden zeigen – bis in die Schriften der Aufklärung zurückverfolgt werden.
So machte der deutsche Philosoph Immanuel Kant, Autor des epochalen wie kurzen Texts Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, bereits Ende des 18. Jahrhunderts auf die Bedeutung der freien und pluralen Meinungsäußerung für das Zusammenleben und die Wahrheitsfindung aufmerksam. In seinen Vorlesungen über Logik geht Kant auf den Zusammenhang von Meinungsfreiheit, Aufklärung und Wahrheit ein.
„Die Freyheit der Mittheilung seiner Gedancken, Urtheile, Kenntniße aber“ – so Kant – „ist gewiß das einzige sichereste Mittel seine Kenntniße recht zu prüfen, und zu verificieren. Und wer diese Freyheit wegnimmt, der ist als der argeste Feind der Ausbreitung der menschlichen Erkenntniße, ja der Menschen selbst anzusehen. Denn er nimmt eben dadurch den Menschen das eine wahre Mittel, das sie noch besitzen, weg, den öfteren Betrug ihres eigenen Verstandes und deßen Fehltritte jemals aufzudecken, gewahr zu werden, und zu verbeßeren. […] Die Menschen sind gleichsahm dazu berufen, ihre Vernunft gemeinschaftlich zu gebrauchen, und sich ihrer zu bedienen“ (Kant 1966, S. 150)
Unmissverständlich plädiert Kant mit diesen Worten für die Freiheit, seine „Gedancken, Urtheile, Kenntniße“ anderen mitteilen zu können. Die Mitteilung ist sich dabei nicht Selbstzweck – Kant verspricht sich von ihr die „Ausbreitung der menschlichen Erkenntniße“. Diese enge Verknüpfung von Meinungsfreiheit und Aufklärung fußt auf Kants Ideen von Autonomie und der Mündigkeit des Menschen.
In verdichteter Form findet sich diese Idee in seinem „Wahlspruch der Aufklärung“ – „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – welchen er in seiner bereits erwähnten Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung? im Jahre 1784 formulierte.
Kant nahm mit seiner berühmten Antwort an einer Debatte in der Berlinischen Monatsschrift teil, die dessen Mitherausgeber Johann Erich Biester unter dem Pseudonym E. v. K. ein Jahr zuvor, 1783, angestoßen hatte. Biester unterbreitete dem Publikum der Zeitschrift den zur damaligen Zeit provokativen Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen zu bemühen. Anstelle einer religiösen Vorstellung der Familie und der Ehe als eine gottgegebene Institution, wie sie vorherrschend war, plädierte er für ein Verständnisder Ehe, das auf Freiwilligkeit und Gefühl beruht. Die Ehe sollte fortan eine Privatangelegenheit zwischen denjenigen sein, die sie eingingen und vor Eingriffen durch die Kirche oder den Staat geschützt sein.
Biesters Vorschlag ist nicht unbeantwortet geblieben und erfuhr im weiteren Verlauf der Debatte von Vertretern und Verteidigern der Kirche und ihres Einflusses Widerspruch. In einer Replik kritisierte der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner nicht nur Biesters Vorschlag zur Säkularisierung der Ehe, sondern richtete seine Kritik auf das gesamte Bestreben nach Autonomie und Unabhängigkeit von den Autoritäten der Kirche und des Staats. Diese Kritik gipfelte schließlich in seiner, wie ‚beiläufig‘ in einer Fußnote formulierten Frage, „Was ist Aufklärung?“, die Kant in seinem berühmten Text zu beantworten suchte.
Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen – wie Kant es forderte – bedeutet auch, sich nach seinen eigenen Irrtümern zu fragen, also zu prüfen, ob das durch den eigenen Verstand Gedachte und von anderen Gelernte einer Prüfung durch die Vernunft standhält. Dafür muss es frei mit anderen geteilt werden können. Denn: Der gemeinschaftliche Gebrauch der Vernunft kann nach Kant aufdecken, ob eine Erkenntnis oder ein Urteil wahr ist oder aber Ergebnis eines „Fehltritts“ oder gar „Betrugs“ durch den eigenen Verstand.
Mit dem gemeinschaftlichen Gebrauch der Vernunft, wie Kant ihn im letzten Satz des Zitats vorschlägt, hat er aber mehr im Sinn als ‚nur‘ individuelle Selbstprüfungs- und Lernprozesse in einem gemeinschaftlichen Rahmen. Die „Mittheilung von Gedancken, Urtheilen, Kenntnißen“ und ihre gemeinsame Prüfung in der Öffentlichkeit ist auch Dreh- und Angelpunkt für ein demokratisches Zusammenleben. Nur im freien Dialog kann etwa verhandelt werden, ob ein Gesetz für alle Menschen gleichermaßen gerecht ist oder aber seinen angedachten Zweck erfüllt.
Mit Blick auf den zeithistorischen Kontext von Kants theoretischem Entwurf, insbesondere seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ließe sich fragen, welchen Bedingungen der von Kant geforderte freie, gemeinsame Gebrauch der Vernunft, unterliegt. Johann Erich Biester, der mit seinem Beitrag den Anstoß für die Auseinandersetzung um Autonomie und die Beantwortung, was Aufklärung denn sei, veröffentlichte diesen unter einem Pseudonym. Zu gefährlich und provokant war die Infragestellung der kirchlichen und staatlichen Autorität in einer Gesellschaft, die im Wesentlichen noch durch diese geprägt war. Wer kann also an dem freien Dialog teilnehmen und wer nicht? Wessen Beiträge finden ein Publikum? Wer ist von der gemeinsamen Wahrheitsfindung aus welchen Gründen ausgeschlossen? Trotz des universalistischen Strebens nach Vernunft und Autonomie, waren in der Zeit der Aufklärung nicht alle Menschen gleichermaßen Teil des öffentlichen Dialogs, konnten also nicht jeden Gedanken, jedes Urteil oder jede Kenntnis vor einem Publikum gleichermaßen frei äußern. So war bspw. die politische Öffentlichkeit Männern vorbehalten, Frauen wurden von ihr ausgeschlossen. Als weniger vernunftfähig imaginiert, oblag ihnen vor allem die Verantwortung für die Umsorgung der Familie. Ebenso war der Zugang zur politischen Öffentlichkeit für all diejenigen verstellt, die nicht über ein gewisses Vermögen verfügten. Denen, die einen entsprechenden Besitz vorweisen konnten, traute man eher zu, unabhängige Urteile treffen zu können. Ein Blick auf diese Ausschlüsse wirft die Frage auf, ob Kants Ideal zur Erlangung der Vernunft, nicht bereits gesellschaftliche Verhältnisse voraussetzt, die schon vernünftig und frei eingerichtet sind.
Kants Entwurf impliziert zudem, dass alle, die an einem solchen Prozess teilnehmen, das gemeinsame Interesse teilen, die Wahrheit herauszustellen. Was passiert allerdings, wenn jemand nicht nur eine Meinung kundtut, die unbeabsichtigt falsch ist, sondern mutwillig? Oder etwa eine Meinung vertritt, die sich gegen einen freien Dialog und einen „gemeinschaftlichen Vernunftgebrauch“ richten? Können oder sollten diese Beiträge ebenfalls von der Meinungsfreiheit gedeckt sein?
Mit dieser Frage beschäftigte sich der englische Philosoph John Stuart Mill in seinem 1859 veröffentlichten und für den politischen Liberalismus klassischen Werk On Liberty, dessen Hauptanliegen die theoretische Fundierung und Sicherung der individuellen Freiheit ist. Besonders der zweite Abschnitt, der den programmatischen Titel Von der Freiheit des Denkens und der Diskussion trägt, bildet einen wichtigen und vielrezipierten Bezugspunkt im Nachdenken über die Meinungsfreiheit.
Ähnlich wie Kant ging auch Mill davon aus, dass die ungehinderte Meinungsäußerung von eminenter Bedeutung für die Wahrheitsfindung und die Aushandlung politischer Prozesse ist. Bekanntheit aber erlangte Mill vor allem für seine Position, dass auch die Freiheit von Äußerungen falscher Auffassungen, d.h. nicht vernünftiger geschützt werden muss. Zum einen so argumentiert Mill, können auch falsche Meinungen einen wahren Teil enthalten. Oder aber sie können deutlicher zeigen, was die entsprechend richtige Meinung eben zur Richtigen macht.
Mills Einsatz für den Schutz der Freiheit von falschen Meinungen, liegt zum anderen in seiner Diagnose einer gesellschaftlichen Tendenz zur Konformität begründet, die die individuelle Freiheit und Individualität an sich gefährdet.
„Die Umstände“, so Mill, „welche verschiedene Klassen und Individuen umschließen und ihren Charakter prägen, gleichen sich einander täglich mehr an. Früher lebten verschiedene Stände, verschiedene Nachbarschaften, verschiedene Gewerbe und Berufsarten in etwas, was verschiedene Welten genannt werden könnte; heutzutage großteils in ein und derselben. Vergleichsweise gesprochen lesen sie jetzt dieselben Dinge, hören dasselbe, sehen dasselbe, besuchen dieselben Orte, richten ihre Hoffnungen und Ängste auf dieselben Sachen, haben dieselben Rechte und Freiheiten und dieselben Mittel, sie geltend zu machen“ (Mill 2021, S. 390)
Die Fortentwicklung der menschlichen Zivilisation, der Industrie und Technik, die Ausweitung von Bildungschancen und nicht zuletzt die rechtliche Gleichstellung führen zu einer Angleichung der Menschen untereinander. Die gewonnenen Freiheiten und Fortschritte drohen, so Mill, in ihr Gegenteil verkehrt zu werden. Damit die Unterschiede zwischen den Menschen bewahrt werden können und die Freiheit aller verteidigt werden kann, muss auch die Freiheit falscher Meinungsäußerungen verteidigt werden, „selbst dann, wenn sie nicht zum Besseren dienen“ oder es scheint „als sollten manche zum Schlechteren führen“. Mill geht es an dieser Stelle nicht wie zuvor darum, dass falsche Meinungsäußerungen auch richtiges beinhalten können oder zur Prüfung des eigenen Arguments dienen können. Die fortwährende intellektuelle Auseinandersetzung mit anderen, darunter eben auch falschen Positionen, dient als Schutz vor der Konformität und Angleichung der Menschen untereinander.
Man könnte an dieser Stelle die Frage stellen, ob die Auseinandersetzung mit falschen Positionen allein genügt, um der von Mill diagnostizierten Tendenz zur Konformität zu begegnen. Gibt es auch Gründe, die auf den ersten Blick nichts mit Meinungen selbst zu tun haben und gesellschaftlich begründet sind? Wie schon vorab bei Kant bemerkt, stellt sich auch an dieser Stelle die Frage, wer seine Meinung überhaupt so vorbringen kann, dass sie ein Publikum erreicht. Mills entschiedene Position, alle Meinungen zu schützen – obgleich sie wahr oder falsch sind – ruft auch die Frage hervor, ob es dennoch Grenzen für die Meinungsfreiheit gibt oder geben sollte und vor allem, wo diese verlaufen. Diese Frage ist Gegenstand und Triebkraft kontinuierlicher gesellschaftlicher Debatten. Wir wollen an dieser Stelle nochmals einen Blick auf unseren Ausgangspunkt, nämlich den fünften Artikel des Grundgesetzes werfen.
Das Recht zur freien Meinungsäußerung ist auch in Deutschland nur in bestimmten Fällen begrenzt – falsche Meinungen wie sie Mill vor Augen hatte, sind auch durch das Grundgesetz geschützt. Dennoch kann das Recht zur freien Meinungsäußerung mit anderen Rechten in Konflikt geraten. So heißt es im zweiten Abschnitt des fünften Paragraphen:
„Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“
Inhalte bzw. Meinungen, die als jugendgefährdend eingestuft werden, sind demnach nicht durch den Artikel 5. des Grundgesetzes geschützt. Ebenso sind Verletzungen des Rechts der persönlichen Ehre, wie üble Nachrede, die Verleumdung Anderer sowie beleidigende oder diskriminierende Äußerungen strafbar und im Sinne der Verfassung nicht als freie Meinungsäußerungen zu werten. Seit 1994 ist auch die Leugnung, Billigung und Verharmlosung von Verbrechen, die während des Nationalsozialismus begangenen wurden, insbesondere der Shoah, der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen, in Deutschland unter Strafe gestellt.
Obgleich die große Bedeutung eines unabhängigen Denkens in der Aufklärung erkannt wurde, kann die Wissenschaftsfreiheit doch erst im 20. Jahrhundert als eingerichtet gelten. Ungeachtet dessen sind Fragen von politischen und anderweitigen Einflussnahmen bis heute aktuell. Wie die Meinungsfreiheit ist auch die Wissenschaftsfreiheit durch das Grundgesetz geregelt. Im dritten Abschnitt des fünften Artikels ist festgehalten:
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“
Welche Bedeutung und Konsequenzen sich aus den einzelnen Bestandteilen dieses Abschnitts ergeben, erläutern wir nach einem kurzen ideengeschichtlichen Rückblick auf die Wissenschaftsfreiheit, anhand des Theologen, Philosophen und Pädagogen Friedrich Schleiermachers.
In seiner 1808 publizierten programmatischen Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn ging Schleiermacher neben der Unterscheidung von der Universität zur Schule auch der Frage nach, wie das Verhältnis zwischen Staat und Wissenschaft gestaltet bzw. nicht gestaltet sein sollte. Schleiermacher hielt unmissverständlich fest, dass:
„Je mehr aber die wissenschaftlich Gebildeten so in den Staat verflochten sind, daß das Wissenschaftliche bei ihnen vom Politischen überwogen wird und nicht zum klaren Bewußtsein kommt, desto eher werden sie sich diesen Eingriffen des Staates fügen; und je genauer sich in diesem Sinn beide Teile verbinden, um desto mehr isoliert sich ein solcher Teil des größeren wissenschaftlichen Nationalvereins von allen übrigen, die ihre eigentümlichen Prinzipien fester halten, und sinkt zu einer bloßen Veranstaltung für den Gebrauch des Staates herab“ (Schleiermacher 2010, S. 136)
Wissenschaft, so könnte man Schleiermachers Worte zusammenfassen, kann zu keinen wirklichen und wahren Erkenntnissen kommen, wenn sie abhängig vom Staat ist. Er geht davon aus, dass ein fundamentaler Interessensunterschied zwischen der Wissenschaft und dem Staat besteht. Demnach hat der Staat ganz bestimmte Interessen an einzelnen Erkenntnissen, die er für seine Ziele und Zwecke nutzen kann. Damit aber verkennt und behindert der Staat das, worum es der Wissenschaft und denjenigen, die sie betreiben eigentlich geht oder gehen sollte: Den „wissenschaftlich Gebildeten“ ist nach Schleiermacher nicht daran gelegen, das Wissen und die Erkenntnis unter bestimmte, isolierte Zwecke zu stellen oder möglichst viel Wissen anzuhäufen. Wissenschaft zeichnet sich nach Schleiermacher durch die Suche nach dem Zusammenhang und der Einheit verschiedener Erkenntnisse aus und wie diese entstehen.
Wenn aber die Wissenschaft unter die Ansprüche des Staats gestellt werden oder wie Schleiermacher es ausdrückt, „die wissenschaftlich Gebildeten so in den Staat verflochten sind“, ist diese Suche nicht mehr möglich. Die Erkenntnisse würden sich immer nach dem Willen der staatlichen Instanz richten und wären so nach Schleiermacher mehr Politik denn Wissenschaft.
Von den möglichen und zu vermeidenden Einwirkungen des Staates betroffen sind neben den Ergebnissen auch schon die Fragen, die aufgeworfen werden und die Gegenstände, die etwa in Experimenten untersucht werden könnten. Dann wären nicht nur die Ergebnisse die Wissenschaft hervorbringen könnte korrumpiert – manche Fragen würden erst gar nicht gestellt werden.
Um die Möglichkeiten einer Bereicherung von Kultur und Gesellschaft durch die Wissenschaft nicht in einer kurzsichtigen Art und Weise einzuschränken, schützt auch das Grundgesetz die Freiheit der Wissenschaft vor staatlichen Eingriffen:
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“,
heißt es im dritten Abschnitt des fünften Artikels. In diesem Sinne ist das Recht der Wissenschaftsfreiheit ein Abwehrrecht und dient vor allem dem Schutze der Wissenschaft.
Trotz der rechtlich verbürgten und ideengeschichtlich begründeten Freiheit der Wissenschaft, sind auch ihr – ähnlich wie die Meinungsfreiheit – Grenzen gesetzt, die nicht nur, aber auch rechtlich bestimmt sind. So lautet der wichtige Zusatz für den Artikel 5.3 des Grundgesetzes:
„Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“
Auch die Wissenschaftsfreiheit kann sich demnach nicht über andere geltende Rechte hinwegsetzen und mit anderen durch das Recht geschützten Gütern in Konflikt treten, wie etwa der körperlichen Unversehrtheit oder der Menschenwürde. Auch Meinungen oder Taten, die strafrechtlich relevant sind, wie die bereits thematisierte Leugnung des Holocausts oder Gewaltverherrlichung, sind nicht durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt.
Abseits dieser Einschränkungen ist die Wissenschaftsfreiheit jedoch keinen weiteren gesetzlichen Vorbehalten unterstellt.
Wer aber – wenn nicht der Staat – bestimmt darüber, was durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt ist und was nicht? Die Antwort ist aus rechtlicher Perspektive so bestimmt wie auch unbestimmt zugleich. Der Jurist Thomas Gutmann, Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster beantwortet sie etwa so:
„[D]ie Verfassung [spielt] bei der Frage, was unter den Begriff der „Wissenschaft“ fällt, gerade um der Bedeutung des Grundrechts willen den Ball an die Eigenrationalität des Wissenschaftssystems und damit an die scientific community zurück“ (Gutmann 2021, S. 2)
Im Sinne des Artikels 5.3 des Grundgesetzes kann niemand anderes als die Wissenschaft selbst darüber entscheiden, was als wissenschaftlich gelten kann und was nicht. Wer aber trifft in der scientific community, wie es Gutmann ausdrückt, die Entscheidung? Entlang welcher Kriterien? Wer gehört zur scientific community und wer nicht? Diesen wohlgemerkt komplexen Fragen und wie diese in aktuellen Debatten verhandelt werden, widmet sich der zweite Teil dieser Lerneinheit.
Abschließend ist auch zu bedenken, dass es auch andere Akteure und Institutionen neben dem Staat oder strukturelle Faktoren gibt, die auf die Wissenschaft einwirken oder einwirken können. Forschungen, besonders in den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen dienen zum Beispiel auch wirtschaftlichen Interessen. Forschungen können explizit von wirtschaftlichen Unternehmen gefördert oder sogar beauftragt werden, bspw. im Bereich der Medizin. So kann etwa ein Pharmaunternehmen Forschungen an einer Universität unterstützen, die für die Entwicklung eigener Medikamente nützlich sein kann. Zur wissenschaftlichen Forschung heute gehört auch eine Finanzierung durch Mittel, die nicht zur Grundfinanzierung der Universitäten gehören. Diese Mittel, die z.B. durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft vergeben werden, nennt man „Drittmittel“. Inwiefern diese Finanzierungsmodelle die Freiheit der Wissenschaft behindern oder gar einschränken, ist Gegenstand anhaltender Debatten und Kritik. Einige Literaturempfehlungen zur weiteren Vertiefung zu diesem wie auch zu anderen Aspekten dieser kurzen Einführung finden sich am Ende der Lerneinheit.
Der Gang durch die rechtlichen und ideengeschichtlichen Perspektiven auf die Meinungsfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit hat gezeigt, dass zwischen den beiden Freiheiten Gemeinsamkeiten, aber auch erhebliche Unterschiede bestehen. Sie verbindet der Anspruch unterschiedliche Positionen zuzulassen und eine offene Auseinandersetzung zwischen ihnen zu ermöglichen – durch das Grundgesetzt sind beide Freiheiten rechtlich verbürgt. Die Meinungsfreiheit, so konnten wir anhand der Positionen von Immanuel Kant und John Stuart Mill sehen, ist von unvergleichlicher Bedeutung für die Urteilsbildung in der Demokratie und der Aushandlung politischer Prozesse. Der erste Abschnitt des fünften Artikels hält das Recht und die Bedeutung für die Demokratie fest. Außer weniger Ausnahmen sind der Meinungsfreiheit keine Grenzen gesetzt. Auch unvernünftige Meinungen, oder falsche Meinungen, wie wir anhand John Stuart Mills Position gesehen haben, sind durch die Meinungsfreiheit geschützt.
Das Ziel von Wissenschaft aber ist es, Erkenntnisse in Form von wahren Aussagen über verschiedene Gegenstände zu gewinnen. Wenngleich nicht jede Aussage, die wissenschaftlich getroffen wurde einen alles überdauernden Wahrheitsanspruch genießt, Erkenntnisse revidiert werden können, es verschiedene Ansätze zur Erforschung ein und desselben Gegenstandes gibt und demnach auch unterschiedliche Deutungen und Ergebnisse existieren, erhebt Wissenschaft den Anspruch auf Richtigkeit. In diesem Punkt unterscheidet sich die Wissenschaftsfreiheit maßgeblich von der Meinungsfreiheit. Damit kann sie in gewisser Weise als ein Gegengewicht zum Recht des Austauschs von Meinungen gelten, das zwischen falsch und wahr nicht differenziert. Die Betrachtung des Grundgesetzes hat gezeigt, dass Wissenschaftsfreiheit zuvorderst ein Abwehrrecht gegenüber Eingriffen des Staats ist. Die Entscheidung darüber, wann Erkenntnisse als belastbar und in diesem Sinne als wissenschaftlich gelten können und welche Kriterien hierfür angelegt werden, obliegt der Wissenschaft selbst.
Vielen Dank fürs Zuhören!
Literatur
Gutmann, Thomas (2021): Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der Meinung. In: Elif Özmen [Hrsg.]: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen. Berlin: J.B. Metzler, S. 1-9.
Kant, Immanuel (1966): Gesammelte Schriften. Band XXIV. Vorlesungen über Logik. Erster Band. Erste Hälfte. Berlin: de Gruyter.
Kant, Immanuel (2017): Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?. In: ders.: Denken wagen. Der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Stuttgart: Reclam, S. 7-16.
Mill, John Stuart (2021): Über die Freiheit. In: ders.: Ausgewählte Werke. Band III. Freiheit, Fortschritt und die Aufgaben des Staates. Teilband III/1: Individuum, Moral und Gesellschaft. Kiel/Hamburg: Wachholtz Verlag, S. 303-440.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (2010): Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende. In: Humboldt-Universität zu Berlin [Hrsg.]: Gründungstexte. Festgabe zum 200-jährigen Jubiläum der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 123-227.