Screencast der Lernbareinheit
Bisher wurde in der Lerneinheit zum Akademischem Streit vor allem hervorgehoben, dass immer wieder und auch gegenwärtig in den Universitäten darüber gestritten wird, wie richtig zu streiten sei. Es wurde ebenso hervorgehoben, dass Streit und Auseinandersetzung traditioneller, also grundlegend konstitutiver Bestandteil der Institution Universität sind, dass ohne Streit wissenschaftlicher Fortschritt und Erkenntnis kaum möglich sind.
In diesem Video-Beitrag „Akademischer Streit – Grundlagen und Formen“ soll die kultivierte Praxis akademischen Streitens eingeführt werden. Dabei wird zunächst die Sozialität von Wissenschaft dargestellt und an einem historischen Beispiel illustriert. Anschließend werden hieraus Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens und einige bedeutende akademische Streit-Formate vorgestellt.
Die Academia als Gemeinschaft von Wissenschaftler*innen widmet und verpflichtet sich der gemeinsamen Erkenntnissuche sowie Erkenntnisproduktion. Wissenschaft ist demnach ein Gemeinschaftsprojekt. Weil das Oberthema dieses Videos der Streit ist, scheint es sinnvoll diese erste und grundlegende Setzung – nämlich, dass Wissenschaft ein Gemeinschaftsprojekt ist – aus kommunikativer Perspektive zu erläutern: Die Forschungsergebnisse oder Theorien einzelner Wissenschaftler*innen, genauso wie von heute üblichen Forscher*innen-Teams blieben wirkungslos und bedeutungslos würden sie nicht an eine interessierte und insbesondere interessierte (wissenschaftliche) Gemeinschaft weitergegeben werden. Notwendig ist also Forschungserkenntnisse schriftlich oder mündlich zu verbreiten, zu publizieren. Wenn nun keine Reaktion erfolgt, also keine Wissenschaftlerin bzw. kein Wissenschaftler derselben Disziplin antwortet, bliebe die zurückliegende Forschung ebenso bedeutungslos. Demgegenüber liegt im Antworten die Produktivität wissenschaftlicher Erkenntnis : durch Zustimmung, Widerspruch oder Infragestellung performiert sich der gemeinsame akademische Dialog, welcher sich gemeinsamen Themen und Fragestellungen widmet.
Ein Beispiel soll dies illustrieren. Der Name Galileo Galilei verbindet sich für uns wohl hauptsächlich mit einem Universalgelehrten, u.a. war Galilei Physiker, Mathematiker, Astronom und Philosoph. Vielleicht denken manche auch an das gleichnamige Drama von Bertholt Brecht.
Galileo Galilei zweifelte das geozentrische Weltbild der katholischen Kirche – wonach die Erde das Zentrum des Planetensystems bildet – im frühen 16. Jahrhundert an und formulierte demgegenüber die Theorie, dass sich die Erde und sämtliche weitere Planeten stattdessen um die Sonne drehen – das heliozentrische Weltbild. Für diese – damals Behauptung, wie wir heute wissen: Erkenntnis – wurde er vom Inquisitionsgericht angeklagt und ist einer Verurteilung nur dadurch entkommen, dass er sich wieder von dieser, seiner Erkenntnis distanziert hat und sie als falsch behauptete. Das Beispiel ist zwar kein per se wissenschaftliches, weil diese Verhandlung vor dem Inquisitionsgericht stattfand, dennoch vermag es für unser Thema Wichtiges beizutragen. Der Streit darum, ob das geozentrische oder das heliozentrische Weltbild der Realität entsprechen, war zu dieser Zeit ein fundamentaler Streit, in welchem sich zudem religiöse Ansichten und Machtverhältnisse mit wissenschaftlichen Theorien kreuzten. Galilei kam nicht gegen die Deutungsmacht der katholischen Kirche an und konnte nicht genügend Beweise sowie Argumente für seine Theorie liefern.
Dieser bedeutende Streit zwischen Galilei und der Katholischen Kirche stiftete wiederum u.a. Johannes Kepler an, weiterführende Forschungen zu bemühen. Mit den Keplerschen Gesetzen lieferte er schließlich weitere Beweise für das heliozentrische Weltbild. D.h. dieser Streit zwischen Galilei und der katholischen Kirche zeugt von einer immensen Forschungsproduktivität und somit Erkenntnisgewinn im Bereich der Physik, Astronomie oder auch Mathematik. Im Bemühen Galileis Theorie argumentativ zu stützen, wurden weitere Erkenntnisse gewonnen.
Dieses historisch berühmte Beispiel zeigt uns zweierlei:
Zum ersten lassen sich hieran die zwei grundlegenden Prinzipien für wissenschaftliches Arbeiten darstellen, nämlich jenes der Verifikation und das der Falsifikation.
Verifizieren bedeutet, dass die eigenen (wissenschaftlichen) Annahmen und Thesen begründet werden müssen, bspw. durch Experimente, Statistiken oder logische Argumente. Das Prinzip der Verifikation bindet Wissenschaftler*:innen also daran, nicht irgendetwas zu behaupten, was sie meinen, was so oder anders sein könnte, sondern für ihre Thesen Beweise anzustrengen. Demgegenüber bedeutet Falsifizieren, dass eine These durch Gegen-Beweise oder Versuchsanordnungen bzw. Experimente, die zu gegenteiligen Ergebnissen kommen, widerlegt ist und widerlegt werden kann.
Das zeigt uns zum zweiten, dass die Orientierung an und Verpflichtung auf die Prinzipien von Verifikation und Falsifikation einen dynamischen Erkenntnisprozess und somit auch Erkenntniszuwachs begünstigen. Wissenschaftler*innen, die ihre eigenen Thesen verifizieren oder diejenigen der anderen falsifizieren, sind immer aufgefordert hierfür Begründungen zu liefern. Und diese Begründungen bzw. Argumente stehen für verdichtete Studienergebnisse und wissenschaftliche Überlegungen.
Wer einen wissenschaftlichen Beitrag veröffentlicht und damit zur Diskussion stellt, muss sowohl mit Zustimmung, als auch mit Widerrede rechnen.
Dieses Streiten als eine Form des sich mit einem Gegenstand, aber auch mit Perspektiven und Deutungen auf diesen Gegenstand auseinandersetzen, hat sich in der Universität als Akademischer Streit kultiviert.
Hierbei haben sich ebenso spezifische Formate für dieses Streiten etabliert. Wir wollen im Folgenden einige bedeutsame Formate kurz vorstellen und gruppieren diese grundlegend hinsichtlich ihrer Medialität in Schriftlichkeit und Mündlichkeit.
Zunächst zur Schriftlichkeit.
Wissenschaft ist textbasiert. Das heißt, sich in ein Thema einzuarbeiten ist wesentlich ein sich einlesen – seien dies Monografien oder Artikel in Sammelbänden und Fachzeitschriften, Gesetzestexte oder das Erlernen eines terminologischen Vokabulars. Auf Basis des angelesenen Wissens und bisherigen Kenntnisstand zu einem Forschungsthema werden schließlich eigene Texte verfasst. Diese sollen die genutzten Quellen und Referenzen ausweisen und in sich einer logischen Struktur und Argumentation folgen. Somit ist das eigene Schreiben immer auch ein Antworten auf zuvor erschienene Schriften, zunächst unentschieden bzgl. ob dieses Antworten zustimmend oder widersprechend und dann weiterführend ist. Eben weil dies erlernt werden muss, ist das wissenschaftliche Schreiben und die unterschiedlichen Textgattungen wesentlicher Bestandteil aller Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten.
Die, in einer bestimmten Fachwissenschaft, üblichen Publikationsformate unterscheiden sich teilweise. Während in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften häufig mehrere, manchmal bis zu zehn und mehr, Wissenschaftler:innen gemeinsam veröffentlichen, sind es in den Geistes- und Sozialwissenschaften zum einen weniger Co-Autor:innen, zum anderen vorrangig Allein-Autor:innenschaften. Während „früher“ Monografien, also Einzelwerke einer Person publiziert wurden, sind in den letzten Jahrzehnten Zeitschriftenbeiträge in Fachzeitschriften bzw. Journals ein immer wichtigeres Austauschformat in der Wissenschaft geworden. Darüber hinaus finden sich, insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften, Sammelbände mit Beiträgen mehrerer Autor:innen sowie Einführungswerke und Studienbücher, die sich insbesondere an Studierende richten.
Abschließend sollen kurz mündliche Formate für wissenschaftlichen Dialog und Streit vorgestellt werden.
Der Prozess eines dialogischen Antwortens ist sicherlich als mündlich vollzogenes Gespräch einfacher vorstellbar.
Im Studium sind es in Seminaren gehaltene Referate und ihre anschließende Diskussion, welche sich formal nicht sonderlich von auf Tagungen oder Konferenzen gehaltenen Vorträgen und deren anschließender Diskussion unterscheiden. Hinzukommend haben sich seit den letzten Jahrzehnten zunehmend Podiumsdiskussionen als ein wissenschaftliches Austauschformat etabliert, bei welchen verschiedene Positionen zu einer Sache von den jeweiligen Vertreter*innen vorgestellt und anschließend diskutiert werden.
Disputationen sind als historische Ur-Form von wissenschaftlichen Streitgesprächen zu bezeichnen. Sie hatten – und das schreibt sich bis in die Gegenwart fort – einen qualifizierenden Charakter. Mit erfolgreich absolvierter Disputation erlangt man den akademischen Grad der Doktorin/ des Doktors mit dazugehörigem Titel. Für die Disputation fertigt die zu prüfende Person ein Thesenpapier an. Im Spätmittelalter wurden diese öffentlich ausgehangen und galten zugleich als Einladung an sämtliche willige Mit-Diskutantinnen.
Ein sehr bekanntes Beispiel ist die Leipziger Disputation, bei welcher Johannes Eck, Andreas Bodenstein undMartin Luther stritten. Eck kam hierbei die Rolles des Herausforderers zu, wohingegen Bodenstein und Luther ihre Thesen verteidigten.
Deutlich wird, dass, egal ob schriftlich oder mündlich, die Rückfrage oder Diskussion von Thesen zugleich zu deren Explikation beiträgt. Das heißt, indem ich aufgefordert bin, auf Rückfragen oder kritische Anmerkungen zu reagieren und zu antworten, wird es nötig meine eigenen Argumente weiter zu schärfen und konkreter zu formulieren. Eben hierin liegt die Möglichkeit des Erkenntnis- und Wissenszuwachses für alle Beteiligten.
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Transkript des Podcasts
Judith Mahnert: Herzlich Willkommen zur Gesprächsrunde zum effektvollen akademischen Streiten. Ich befinde mich hier in einem digitalen Videogespräch mit Erik Schilling und Lukas Haffert und bevor wir tatsächlich in das Gespräch einsteigen, würde ich die beiden gerne vorstellen: Erik Schilling ist habilitierter Literaturwissenschaftler, er hat sich in seiner Dissertation mit dem Werk Umberto Ecos beschäftigt. Er hat zu dialogisch-poetischen Liebesbeziehungen zwischen Dichtern geforscht. Einen Band des Künstlers Julian Charrière mitherausgegeben, in welchem Fotos von zerberstenden Sanduhren zu sehen sind. Und vor wenigen Jahren hat er sich mit Authentizität als moderner Sehnsucht von Individuen beschäftigt. Darüber hinaus sind für das kommende Jahr bereits mehrere Bücher angekündigt und von 2018 bis 2023 war Erik Schilling Mitglied der Jungen Akademie. Auf der virtuellen anderen Seite befindet sich Lukas Haffert. Lukas Haffert ist Politikwissenschaftler und Ökonom, hat zu Haushaltsüberschüssen promoviert und ist frisch berufen auf eine Professur für Vergleichende Politikwissenschaft in Genf. Er ist zudem Gast und Autor in zahlreichen weiteren Debattenräumen, beispielsweise dem Berliner Think Tank „Das progressive Zentrum“ oder dem „Makroskop Magazin“. Darüber hinaus ist Lukas Haffert mehrfacher Sieger im Streitkultur Masterscup, so zum Beispiel 2009 und 2018 hier auch als Master der Masters siegreich hervorgegangen. Er war außerdem Vorstand der deutschen Debattiergesellschaft. Erschienen sind von ihm unter anderem 2016 „Die schwarze Null“, 2019 „Kein schöner Land“ und recht frisch aus dem Jahr 2022 „Stadt Land Frust“. Lukas Haffert war ebenso von 2018 bis 2023 Mitglied der Jungen Akademie. Beide haben zusammen 2019 mit Ricarda Winkelmann und Oliver Rymek, die sechsundzwanzigste Ausgabe des Jungen Akademie Magazins mit dem Titel „Streit!“ verantwortet. Eben dieses Magazin ist der Auslöser für unser heutiges Gespräch. Kurz zu mir. Ich bin Judith Mahnert und dabei meine Promotion in Erziehungswissenschaft abzuschließen. Ich bin wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Akademische Redefreiheit im universitären Bildungsraum“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und in diesem Zusammenhang Autorin der Lerneinheit „Akademisches Streiten“ im Lernbar-Kurs „Akademische Redefreiheit im universitären Bildungsraum“. Schon vor etwas längerer Zeit bin ich eben auf dieses Magazin zu Streit gestoßen und hier insbesondere auf das Plakat zum „Effektvollen Streiten“, welches mich doch sehr angesprochen hat und was eben auch als Auslöser für unser heutiges Gespräch wirkt. Ich danke Ihnen beiden schon jetzt, dass Sie sich die Zeit nehmen und bin sehr gespannt auf unser Gespräch. Dieses ist ja nun Teil der Lerneinheit Akademisches Streiten, also Streiten in der Wissenschaft beziehungsweise Streit unter Wissenschaftler:innen. Haben Sie aus Ihrer Erfahrung oder eben vielleicht bezogen auf das Plakat was sie erstellt haben, ein Beispiel, wo Sie sagen würden, hier hat akademisches Streiten besonders gut funktioniert?
Erik Schilling: Hallo Frau Mahnert, vielen Dank, dass wir teilnehmen dürfen an dem Gespräch. Ich bin Literaturwissenschaftler, deswegen würde ich auch mit einem literaturwissenschaftlichen Beispiel einsteigen. Es gab in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine lange und harte Auseinandersetzung darüber, wie die Werke von Friedrich Hölderlin am besten zu edieren sein. Also wie man das Gesamtwerk von ihm am besten aufbereitet als Buchpublikation. Und zwar gibt es bei Hölderlin das Problem, dass gerade die späteren Gedichte ganz oft in drei, vier, fünf, sechs verschiedenen Varianten vorliegen. Die Varianten auch teilweise stark voneinander abweichen, manche auch gar nicht fertiggestellt sind. Das heißt man hat es mit Fragmenten zu tun, mit vollständigen Gedichten, mit verschiedenen Versionen eines Gedichts und so weiter. Und jetzt war die Debatte, versucht man entweder, wie es klassisch gemacht wurde, die verschiedenen Varianten zu einer Variante zusammenzufügen und zu sagen, man hat dann das eine fertige, bestmögliche Gedicht und hat dann auch eine schöne Leseausgabe, die man ganz normal – wie man Gedichte eben so liest – lesen kann. Oder aber, versucht man diese verschiedenen Varianten möglichst gut abzubilden, um zu zeigen, wie Hölderlin auch gerungen hat um die Formulierungen, wie er nicht fertig geworden ist, wie er abgebrochen hat und so weiter. Dann hat man den Entstehungsprozess natürlich viel besser dokumentiert und versteht auch genauer, was da abgelaufen ist. Andererseits aber hat man eigentlich kein Gedicht mehr, was man wirklich lesen kann, man hat fünf Varianten eines Gedichts und wird hinten und vorne nicht fertig. Und diese Debatte wurde sehr hart geführt. Aber ich finde, es war eine sehr produktive Debatte, weil sie eben einerseits über Fragen des richtigen Edierens gestritten hat und andererseits aber auch über die Frage, wie man Hölderlingedichte oder vielleicht auch literarische Texte allgemein, am besten verstehen kann. Also kann man sie besonders gut verstehen, wenn man einen fertigen Text vor sich hat oder wenn man viele Varianten des selben Textes vor sich hat? Was führt dazu, dass man am besten über Hölderlingedichte nachdenken, sprechen und sie interpretieren kann. Diese Debatte, das wäre so ein Beispiel für einen gelungenen Streit, weil sich eigentlich keine der beiden Kulturen auch so richtig durchgesetzt hat, sondern weil beide ihre Argumente vorbringen konnten, beide gehört wurden und man heute der Meinung ist, dass man irgendwie beides einbeziehen muss in Editionen.
Judith Mahnert: Ja vielen Dank für den Einblick. Herr Haffert möchten Sie anschließen?
Lukas Haffert: Ja auch von meiner Seite ganz herzlichen Dank für die Einladung. Erst einmal möchte ich ganz dick unterstreichen, was Erik ganz am Schluss gesagt hat. Mein Eindruck wäre auch, gelungener Streit ist ein Streit, der eine Frage nicht entscheidet, sondern die irgendwie auf eine neue Ebene hebt, aber man dann den Wert beider Positionen besser erkennt als vorher. Ein Beispiel aus meinem Bereich, der politischen Ökonomie, wo ich sagen würde, dass das sehr gut gelungen ist, ist eine Auseinandersetzung über die Entstehung und die politischen Koalitionen bei der Entstehung des Wohlfahrtsstaates. Also eine für uns sehr intuitive, klassische Position würde sagen, der Wohlfahrtsstaat ist von der Arbeiterbewegung erkämpft worden gegen die Interessen der Arbeitgeber. Das ist sozusagen die fundamentale Konfliktlinie. Und da ist den 90er Jahren eine revisionistische Position formuliert worden, die sagte, es gibt eine ganze Reihe von Beispielen in denen Arbeitgeber sehr gut leben konnten, mindestens mal gut leben konnten mit der Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Programme. Ganz simple Idee. Im Deutschen sprechen wir häufig von Sozialversicherung. Versicherung ist etwas, was Menschen ermöglicht, Risiken einzugehen. Und Arbeitgeber haben absolut ein Interesse daran, dass ihre Arbeitnehmer bereit sind, bestimmt Risiken einzugehen, zum Beispiel, sich sehr sehr stark zu spezialisieren, sehr spezialisierte Kompetenzen zu erwerben. Das ist ein Risiko, der Sozialstaat versichert das. Und was ich an dieser Auseinandersetzung, die sich dann daran entspann – Stimmt das? Wie ist die historische Evidenz? – sehr mag, ist dass es ein Beispiel dafür ist, dass eigentlich eine Debatte – die auf den ersten Blick – theoretisch weit in der Vergangenheit liegend erscheint, dann doch ganz konkrete Bedeutung auch für aktuelle Themen hat. In den 90er Jahren war das die große Frage, Reform des Wohlfahrtsstaats, Rückbau des Wohlfahrtsstaats. Und da aufzutreten mit dem Argument, es ist keineswegs so, dass die Arbeitgeber immer einen Rückbau des Sozialstaats verlangen. Sozusagen die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ist nicht die einzige denkbare Arbeitgeberposition, war natürlich auf einmal auch eine ganz produktive Position in einer aktuellen Debatte. Deshalb fand ich das ein sehr gelungenes Beispiel für eine, auf den ersten Blick, ganz eng wissenschaftliche Auseinandersetzung, in der aber auf den zweiten Blick ganz viel drinsteckt.
Judith Mahnert: Ja auch an Sie vielen Dank. Jetzt haben Sie ja beide Ihre Beispiele mit so einer Art Quintessenz abgeschlossen, dass diese Auseinandersetzung ermöglicht hat Perspektiven zu einer bestimmten Frage oder zu einer bestimmten Editionspraxis auf eine weitere oder eine nächste Ebene zu heben. Wenn wir die Frage jetzt noch einmal umdrehen oder entgegensetzt dazu: Was wäre dann schlechter oder weniger gelingender akademischer Streit, in so einer Absetzungsbewegung quasi? Einer, der es nicht vermag, diese nächste Ebene zu erreichen? Oder: der am Thema vorbeizielt? An der Frage?
Lukas Haffert: Also mein Gefühl wäre, dass eben sehr häufig misslingender Streit eigentlich sich dadurch auszeichnet, dass er nicht so richtig in Gang kommt. In dem Sinne, dass eben Positionen einfach nebeneinander gestellt werden, ohne aber wirklich in eine Interaktion miteinander gebracht zu werden. Also, es gibt dann vier oder fünf Publikationen zum selben Thema, aber im Grunde findet nie eine wirkliche Auseinandersetzung zwischen diesen Publikationen statt. Sondern es bleibt allenfalls der Leserin, dem Leser dann überlassen, die sich nebeneinander zu legen und selber danach zu suchen, wo jetzt hier eigentlich die Streitpunkte sind. Und dann gelingt eben dieses Quintessenz-Ziehen aus meiner Sicht häufig nicht, dann hat man eben einfach eine Übersicht, es gibt diese und jene Position, aber die schärfen sich nicht gegenseitig aneinander und deshalb wird das dann auch nicht produktiv.
Judith Mahnert: Was würden Sie denn sagen, wie denn das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Streiten zu setzen wäre? Also fußt Wissenschaft demnach auf Streiten und das ist das konstitutive Element oder die konstitutive Praxis für Wissenschaft? Oder ist der Streit eher als ein Ergebnis von wissenschaftlichem Erkenntnisstreben und Fortschritt in der Erkenntnisproduktion zu sehen?
Lukas Haffert: Ich würde schon sagen, das ist tatsächlich ein ganz fundamentaler Motor. Also der typische Artikel listet ja auf, was andere zu einem Thema gesagt haben und erklärt dann, in welcher Art und Weise er sich jetzt davon absetzen möchte. Und also in dem Beispiel, mit dem ich eingestiegen bin, ich denke man würde heute wahrscheinlich sagen, tendenziell hat sich die traditionelle Position in diesem Streit schon weitgehend behauptet. Aber sie ist durch diese Herausforderung eben nochmal ganz stark gezwungen worden, ihre Argumente zu schärfen, zu präzisieren. Und das hat sozusagen, die gezwungen jetzt besser zu argumentieren, als sie das vorher mussten, weil sie diese Herausforderung nicht hatten. Und in dem Sinne würde ich sagen, ja, das ist ganz stark eine Antriebskraft. Jetzt ist die Frage, ob man das immer gleich, Streit ist ja ein relativ scharfer Begriff, da steckt irgendwie gleich drin, als hätte das auch eine normative Dimension. Aber sagen wir mal, das Beziehen einer Widerspruchsposition, das Widersprechen, dass das ein Motor wissenschaftlicher Arbeit ist, das scheint mir schon sehr essenziell zu sein, ja.
Erik Schilling: Und das gilt dann ja auch wieder für den Aufsatz, das Paper, was man veröffentlicht, als Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung. Das ist ja auch wieder der Ausgangspunkt für potentiell künftigen Widerspruch, künftigen Streit. Insofern würde ich sagen, ist es eben beides. Die erste Erkenntnis erfolgt aus der kritisch widersprechenden Auseinandersetzung mit vorheriger Forschung und das ist dann wiederum, wenn man es prozessual denkt, die Einladung an andere Forscherinnen und Forscher, sich damit wieder kritisch widersprechend auseinanderzusetzen. Also Wissenschaft entsteht aus der Auseinandersetzung und führt wieder in eine Auseinandersetzung in ihren Ergebnissen.
Judith Mahnert: Ja vielen Dank für diese ersten Erläuterungen. Ich würde gerne mit Ihnen auf Ihr Plakat zu sprechen kommen. Also ich hatte schon ausgeführt, Sie haben dieses Magazin zum Streit verantwortet und in diesem findet sich eben ein Plakat zum „Effektvollen Streiten“, auf welchem sie sechs, ich würde sagen Streitgruppierungen oder Strategiegruppierungen erstellt haben. Und diese gliedern sich nochmal auf in so – ich lese das als Strategien, die sie da formulieren. Und das sind ganze 28, die Sie zusammengetragen haben. Die zudem immer unterlegt sind mit historischen Beispielen aus denen Sie, infrage steht das jetzt, die Strategien abgeleitet haben oder vielleicht auch zu den Strategien Beispiel gefunden haben. Da können Sie gerne nochmal drauf eingehen, wenn Sie möchten. Mich interessiert erst einmal, wo Sie diese ganzen historischen Beispiele gefunden haben oder ob Sie schlicht und einfach von all diesen Fällen wussten, von all diesen Fällen akademischen Streits.
Erik Schilling: Na ja, das ist das Schöne an der Jungen Akademie muss man vielleicht sagen, also ganz kurz in zwei Sätzen erläutert, was das ist: Das ist sozusagen die „Nachwuchs“-Organisation der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina, also der Nationalen Akademie der Wissenschaften, in der immer fünfzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für jeweils fünf Jahre zusammenkommen, um gemeinsam über Themen nachzudenken, interdisziplinär sich auszutauschen und so weiter. Und damit hat man eben einen Fundus an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus allen Disziplinen, die wahnsinnig viel wissen und sehr kreativ Dinge beitragen können und diesen Fundus haben wir angezapft. Es ist bei weitem nicht so, dass wir alle diese Beispiele parat hatten, sondern wir hatten einfach das Glück, uns in einem Ambiente zu bewegen, in dem wir auf viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter gestoßen sind, die mit uns eben dieses Plakat und dieses Magazin kreativ gestaltet haben.
Judith Mahnert: Jetzt haben Sie ja gerade ausgeführt, dass Wissenschaftler:innen ganz verschiedener Fachkulturen und Fachwissenschaften eben in der Jungen Akademie zusammenkommen, würden Sie denn sagen, dass diese Beispiele, die Sie zusammengetragen haben, so etwas wie fachinterne Anekdoten sind, also hinter denen sich gegebenenfalls eine scientific community auch verbindet? Oder gegebenenfalls abgrenzt? Beziehungsweise falls es das nicht ist oder hinzukommt, welche Art Verbindung ist das dann, die hierüber fachwissenschaftlich oder fachintern gestiftet wird?
Erik Schilling: Also zu der Frage mit den Anekdoten könnte man vielleicht sagen, wir waren der Meinung, es ist beides. Also es sind einerseits natürlich Anekdoten, die man sich in der jeweiligen Fachkultur, vielleicht auch mit so einem gewissen Schmunzeln erzählt, sagt, ach ja witzig, wie die sich damals auseinandersetzen konnten über diese Frage, da sind wir jetzt längst weiter oder so. Also ja, was man eben bei einem Bier mal den Studierenden im zweiten, dritten Semester erzählt und die sagen dann, „Oh wow, interessant“. Einerseits. Andererseits aber sind es natürlich schon auch Beispiele, an denen man auch so eine Metaperspektive, wie wir sie heute einzunehmen versuchen in diesem Gespräch, sehr viele Dinge über Streit lernen kann. Deswegen haben wir ja versucht, das auch ein bisschen zu gruppieren, zu sagen, wir haben hier sechs Kategorien, wie man denn streitet. Und dann vielleicht auch noch so einzelne Streitstrategien, die teils auch so ein bisschen ironisch und witzig gedacht sind. Aber zumindest mit diesen sechs Kategorien, glaube ich, das ist uns schon durchaus ernst, dass wir da sagen würden, wenn man das beachtet, dann ist man bei einem gelungenen wissenschaftlichen Streit. Und die Anekdoten tragen dazu bei, das ein bisschen zu beleuchten, zu illustrieren, wie das funktionieren kann.
Judith Mahnert: Sie beziehen sich in diesen Streitstrategien, also eine Gruppierung ist „Hauptsache Sie streiten“, eine zweite „Streiten Sie mit Sinn und Verstand“, „Streiten Sie nicht allein“, aus meiner Sicht oder ich lese darin, dass es hauptsächlich um die Form geht. Die Form des Streitens. In unserem Forschungsprojekt zur „Akademischen Redefreiheit im universitären Bildungsraum“ widmen wir uns ja dem konfliktreichen Diskurs darum, was, wie an Universitäten von wem durch wen legitimiert oder limitiert, sagbar ist. Also einmal sämtliche Koordinaten abgegriffen heißt das, wer spricht über was und welche Gegenstände, in welcher Weise? Das bezieht sich, würde ich sagen, auch auf die Form. Und welche Gemeinschaft, also welche akademische oder wissenschaftliche Gemeinschaft richtet über die Auslegung dieser Prinzipien? Oder inwiefern müssen die Prinzipien dieser Auseinandersetzung ausgehandelt werden? Was ich nun spannend finde, ist, dass Sie mit Ihrem Plakat zum effektvollen Streiten, sich eben wie gesagt, hauptsächlich auf die Art und Weise des Streitens, auf die Form beziehen. Sie hatten vorhin beide schon einmal gesagt, dass es Ihnen, mit als eine der wichtigsten Punkte erscheint, dass Streiten überhaupt in den Gang kommt. Ist das auch einer der Hintergründe, weshalb diese Fokussierung auf die Form Ihnen so zentral schien, oder gab es da noch andere Ideen oder was würden Sie aus heutiger Sicht sagen? Das ist ja auch schon ein längeres oder älteres Datum, was uns hier vorliegt.
Lukas Haffert: Wenn ich anfangen darf? Also in gewisser Weise ist das charakteristisch für ein typisches Muster des interdisziplinären Austauschs in der Jungen Akademie. Man landet sehr häufig auf der Metaebene, weil es sozusagen einfacher ist, sich über die Disziplingrenzen hinweg über Fragen von Universitätsorganisation, die man doch sehr ähnlich erlebt, auszutauschen, als jetzt über konkrete Forschungsgegenstände. Also insofern ist es in gewisser Weise prototypisch. Ich würde es aber auch inhaltlich durchaus verteidigen, weil ich tatsächlich eben auch sagen würde, wenn man das so jetzt, ich habe das jetzt auch erstmals nach längerer Zeit wieder angeschaut, ich würde auch sagen und es ist irgendwie auch ein Plädoyer dafür zu sagen, das ist völlig in Ordnung, dass es im wissenschaftlichen Streit nicht nur um die Sache geht. Im engen Verständnis. Sondern, dass Rhetorik, Polemik, auch eben die Wahl eines bestimmten Ortes, es geht ja hier eben bei der Form, eine Sache, die mir nochmal aufgefallen ist, es ist ja nicht die Sache, wie wird der Streit ausgetragen, sondern zum Beispiel auch, wo wird der ausgetragen. Dass das nicht irgendwie „Ihh Bäh“ ist, sondern, dass das zu einem gelingenden Streit gerade erst beitragen kann. Und dass ja zum Beispiel sehr häufig gelingende Streite nicht diejenigen sind in denen wahnsinnig neue Sachen gesagt werden, sondern hinterher kommt irgendjemand und sagt immer, das ist ja vor fünfzehn Jahren da und dort auch schon mal gesagt worden. Aber vor fünfzehn Jahren hat es da und dort eben keine Reaktion ausgelöst. Hat eben nicht dazu geführt, dass man sich wirklich auseinandergesetzt hat. Und dann ist eben die Frage, warum führt es eben manchmal dann zu einer erfolgreichen Auseinandersetzung und da würde ich eben schon sagen, ja, da ist unser Plädoyer, das hat eben mit Fragen von Stil, Rhetorik und so weiter eine Menge zu tun und das ist auch völlig in Ordnung.
Erik Schilling: Ich würde vielleicht noch einen Punkt ergänzen, dir ganz klein wenig widersprechen, Lukas, indem ich sagen würde, mein Eindruck ist, es geht ein bisschen weniger nur um die Form als vielmehr um die Regeln für gelungenes Streiten, die mir noch etwas entscheidender erscheinen, und das müssen nicht nur inhaltliche Regeln sein, nicht nur diskursive Regeln, sondern das können auch so Regeln sein wie eben die Art und Weise, die Form. Also, wir haben ja eine Kategorie, „Streiten Sie schön“, Rhetorik zum Beispiel: Wie bereitet man die eigenen Ergebnisse auf, damit sie vielleicht auch möglichst ansprechend sind, Grafiken, gut formuliert, wie auch immer. Dann haben wir eine Kategorie, „Machen Sie von ihrem Streit reden“, also auch sowas wie Vermarktung oder so. Das würde ich auch sagen. Aber ich würde sagen, überall in diesen Kategorien steht doch drüber, dass es irgendwie nach gewissen Regeln geht. Also wenn ich einem Kollegen, einer Kollegin abends in der Kneipe irgendwas erzähle, und wir streiten uns, und am nächsten Tag wird es groß auf Twitter gepostet, dann wird auch von diesem Streit reden gemacht, aber durch einen Regelbruch, weil ich vielleicht nicht einverstanden war, dass dieser Streit öffentlich gemacht wird oder so. Also ich würde sagen, bei all diesen Kategorien, auch in der Rhetorik, gibt es ja klare Regeln, was wie gesagt werden kann oder sollte und was wie vielleicht auch nicht gesagt werden sollte. Und über diese Regeln kann man natürlich auch wieder streiten. Aber ich würde sagen, die gibt es schon und insofern ist es dann auch nicht, nicht ganz beliebig. Es gibt eben aber natürlich mehr als nur die inhaltliche Dimension des Streites. Es gibt auch noch die ganzen anderen Dimensionen ringsum, aber auch die funktionieren eben nach bestimmten Regeln, die vielleicht in vielen Fällen auch ganz gut so sind, wie sie sind, würde ich sagen.
Judith Mahnert: Ich habe mich gefragt, worauf sich „effektvoll streiten“ bezieht, und hatte so zwei Richtungen für mich ausgemacht, nämlich einmal effektvoll im Sinne von darüber kommt ein Reden auch in der Nachwelt zugange. Also auch die Nachwelt raunt noch darüber, was damals geschehen ist. Oder und damit quasi effektvoll als Wirksamkeit und langwährende Wirkmächtigkeit. Oder ist effektvoll eben auch als eine effektvolle Wahrheitsfindung zu lesen? Ich habe Sie jetzt beide so verstanden, dass es eher um das Raunen der Nachwelt geht oder eher in diese Richtung. Aber vielleicht habe ich Sie falsch verstanden, und Sie mögen das noch mal korrigieren oder nochmal auf meine Frage, inwiefern effektvoll hier auszulesen ist, Bezug nehmen.
Lukas Haffert: Also die Nachwelt sehe ich hier eigentlich fast gar nicht am Werk. Also klar, wir haben viele Beispiele, die zum Teil recht weit in der Geschichte zurückreichen. Aber der dritte Adressat dieses Streites scheint mir erst mal die Zeitgenossenschaft zu sein. Also wenn ich einen Effekt nach außen intendiere, ist das, dass ich Leuten aus dem gleichen Fach, aber nicht aus der gleichen Subdisziplin oder eben aus benachbarten Fächern oder so erst mal ermögliche zu sagen, hier geht es um was, das ist auch für euch interessant. Hier wird eine Diskussion, die wir schon eine Weile eben in sehr kleinen Zirkeln führen, jetzt sozusagen relevant für viele oder so. Also wenn Effekt nach außen, scheint mir erst mal der Effekt, der zu sein für die Zeitgenossenschaft, und sozusagen, wenn es irgendwie staubt und knallt, dann entsteht eben auch eine gewisse Aufmerksamkeit, die man mit ganz rhetorikfreien Auseinandersetzungen eben erstmal nicht erzielt. Und dann ist aber also mit „effektvoll“ eben im Sinne von dem, was wir eigentlich am Anfang besprochen haben, schon gemeint, dass tatsächlich dann in diesen Auseinandersetzungen die Teilnehmer gezwungen werden zu sagen, die Position kann ich noch besser formulieren. Sozusagen, ich habe jetzt gemerkt, so wie ich die bisher formuliere, das ist irgendwie unzureichend, damit ziehe ich in diesem Streit den Kürzeren und ich muss jetzt noch mal investieren, und dann kriege ich das schärfer formuliert oder präziser gezeigt oder meine Methodik nochmal verbessert. Und also ich würde absolut auch sagen, das ist in dem Sinne effektvoll, dass man herausgefordert wird, nochmal weiterzuarbeiten.
Erik Schilling: Und damit dann eben auch in seiner Erkenntnis herausgefordert wird. Also, das wäre jetzt vielleicht ein bisschen noch eher die diskursive Komponente, aber man könnte ja auch sagen, einfach die epistemische Komponente. Also sozusagen, wie können wir als streitende wissenschaftliche Community versuchen, einfach noch besser Wissen über die Welt oder wie auch immer man Erkenntnis dann definieren will, zu erlangen? Also, das wäre auch ein Effekt von Streiten. Effektvoll wird gestritten, wenn wir nachher mehr wissen als vorher.
Lukas Haffert: Wobei, wenn ich – ich glaube, hier steckt noch eine unterschiedliche Perspektive zwischen uns beiden, die ich jetzt gerne noch mal versuchen möchte, zu schärfen. Ich bin eigentlich ein sehr großer Anhänger dieses, ich glaube, Max-Planck-Bonmots, dass sozusagen wissenschaftlicher Fortschritt, Beerdigung für Beerdigung erfolgt. Aus meiner Sicht wäre es eine unnötige Anforderung an einen produktiven Streit, dass irgendjemand seine Meinung ändert. Also deshalb dieses mit dem Erkenntnisgewinn. Ich würde immer ganz stark auf Erkenntnis für Dritte abstellen, aber dass jemand sagt, ich selber bin jetzt überzeugt worden in dem Streit, bisher habe ich das falsch gesehen, und jetzt sehe ich das anders. Das wird unwahrscheinlich selten passieren. Das aus meiner Sicht aber auch kein Problem, solange der nur denkt, ich muss jetzt meine Argumente nochmal schärfen. Das reicht für mich völlig aus.
Judith Mahnert: Danke für die Einschätzung. Würden Sie denn meinen, dass vor dem Hintergrund dessen, was Sie auch gerade ausgeführt haben, es notwendig ist, dass es eine stete oder immerwährende weiterführende Debatte und Auseinandersetzung um das, was akademisches Streiten ist oder was akademisches Streiten sein soll und an welchen Prinzipien es sich orientieren soll, dass diese Debatte notwendig ist? Ich frage auch vor dem Hintergrund, dass wir in unserem Forschungsprojekt beobachten, dass es doch in den letzten Jahren sehr kontroverse und vielfache Einschätzungen des derzeitigen Standes akademischer Diskussions- und Debattenkultur gibt. Also es gibt zahlreiche Diagnosen, die die Qualität dessen sehr stark bemängeln, also von „erodierenden Streitkulturen“ – Zitat – sprechen zum Beispiel eine Resolution des Deutschen Hochschulverbands aus dem Jahr 2017. Und demgegenüber stehen ebenso Positionierungen, die vom – Zitat – „Aufschwung der Diskussionskultur“ sprechen. Weil sich, das ist ein Positionspapier des Freien Zusammenschlusses der Studierendenschaften aus 2018, wo eben dieser Aufschwung der Diskussionskultur festgestellt wird, weil sich zum Beispiel immer mehr Studierende beteiligen. Also nochmal zurück auf meine Ausgangsfrage. Meinen Sie, dass es diese Verständigung zum einen fortwährend braucht, und kann man ihr Plakat, auch wenn das jetzt einige Jahre zurückliegt, ist das auch eine Art Diagnose, die Sie da eigentlich gestellt haben? Oder würden Sie das aus heutiger Perspektive so da so einfügen können, oder geht das noch mal in eine ganz andere Richtung? Das waren jetzt ganz viele Fragen auf einmal, Sie können einsteigen, wie Sie mögen, und ich komme dann gegebenenfalls zurück.
Lukas Haffert: Also auf die erste Frage, ist eine Verständigung darüber notwendig und sinnvoll, würde ich mit einem klaren Ja antworten. Ich glaube, was wir damals 2019 schon gesehen haben und was ich jetzt dann durch die Pandemie, durch das Klimathema nochmal ganz stark verschärft hat, ist ja zum Beispiel diese enorme Erwartung der Öffentlichkeit an die Wissenschaft in Bezug auf eine Produktion von Eindeutigkeit. So: Was sollen wir tun?! Und das ist irgendwie, ich meine, glaube ich, jetzt schon deutlich geworden. Wir beide, ich spreche jetzt mal für Erik mit, sind große Anhänger von Ambivalenz, und das ist irgendwie so ein Streit dazu dient unterschiedliche Positionen deutlich zu machen. Das ist eine Position, für die das eine Herausforderung ist, wenn die Erwartung ist, bitte produziert ja Eindeutigkeit. Insofern glaube ich, dass das wichtig ist, ein Dialog darüber zu führen, wie man damit umgeht. Dieser Dialog, der immer in Gang kommt, wenn es wieder, das ist ja jetzt sozusagen implizit, Sie haben jetzt kein Beispiel genannt, aber in dieses irgendeiner wird wieder ausgeladen, oder es gibt eine Demo gegen einen Vortrag oder so. Das lenkt ja den Blick auf einen spezifischen Aspekt des Themas, der meines Erachtens überhaupt nicht das ganze Thema ist, sondern wenn meine Diagnose stimmt und irgendwie ein Problem ist, dass Streit oft nicht in Gang kommt, hat das ja zum Beispiel was damit zu tun: Wer darf sich überhaupt trauen, mal was Kontroverses zu sagen? Und dann sind wir bei der Frage Prekarität, was sind überhaupt Rollenerwartungen für Leute, die noch nicht auf einer Professur sind? Das sind ja alles so Fragen, die dann auch auf einmal mitdiskutiert werden müssen und die aber struktureller Alltag sind. Und wo eher die Frage ist, schreibt man eine kritische Rezension oder schreibt man sie nicht, als jetzt lädt man Boris Palmer ein und dann knallts. Und insofern auch da scheint mir wichtig, dass das Teil einer Selbstverständigung ist. Und ja, dann glaube ich auch, dass dieses Thema, was kann, soll, darf auf dem Universitätscampus gesagt werden, jetzt eine Auseinandersetzung verdient und meine Position wäre immer zu sagen: Wo wenn nicht auf dem Universitätscampus gibt es die Chance, dass sich das bessere Argument durchsetzt? Also sicherlich sind die Chancen sehr viel höher als auf Twitter. Insofern lasst uns die Diskussion lieber auf dem Universitätscampus führen, als auf Twitter. Aber eben das scheint mir nur ein Baustein in einem eigentlich sehr viel breiteren Feld zu sein.
Judith Mahnert: Wir waren ja vorhin auch bei dem Verhältnis oder dem Zusammenspiel von Affektivität, Emotionalität, argumentative Sachlichkeit. Und um das und ich lese Ihr Plakat als ein großes Plädoyer für das Streiten und so würde ich auch das ganze Magazin verstehen. Und um jetzt nochmal auf diese emotional affektiven Komponenten von Streit zurückzukommen, würde ich gleichzeitig sagen, mit Streit assoziieren wir doch, oder ich denke, die allermeisten Menschen sowas wie Konfrontation, Aggressivität vielleicht auch. Also Züge, die eher unangenehm sind oder die unbehaglich erscheinen. Und vor dem Hintergrund habe ich mich gefragt, würde das, was Sie in ihrem Magazin machen oder als Thema aufs Tablett gehoben haben, auf die Bühne und auch das, was Ihr Anliegen war in dem Plakat: Würde das nicht auch unter Diskussion aufgehen oder Diskutieren eben? Also, warum haben Sie sich für Streit entschieden?
Lukas Haffert: Also, ich habe dazu eine Antwort, aber ich weiß gar nicht, ob das ein „Wir“ in irgendeiner Weise repräsentiert. Ich finde an dem Diskussionsbegriff, da ist mir zu schnell die Suche nach Konsens drin. Da ist so eine Idee, wenn wir das ausdiskutieren, dann finden wir ja hier einen gemeinsamen Nenner. Und aus dieser Idee von das muss ein Antrieb sein, man muss da rausgehen und sich herausgefordert fühlen, zu sagen, ich gehe jetzt nochmal in die Daten, ich schaue mir die nochmal an, ich kann das nochmal besser untersuchen, ist mir das zu weich zu sagen, wir haben das jetzt diskutiert, und dann haben wir jetzt eine Position gefunden, mit der alle leben können, ja. Und das ist also, das würde ich sagen. Deshalb war ich vorhin auch so ein bisschen wollte ich widersprechen, als Du Erik die Politik eingebracht hat, ja, diese Suche nach einem gemeinsamen Nenner, das scheint mir eben die politische Form der Auseinandersetzung zu sein, die produktiv und sinnvoll ist. Aber ich würde sagen, in der Wissenschaft ist zumindest in der Nuancierung dieses Vorantreibende, Herausfordernde eben wichtiger als das Konsensuale.
Judith Mahnert: Wenn man jetzt mal die Disputation, als das Urformat akademischen Streits betrachtet, dann war das ja eigentlich ein Format, wo jemand öffentlich Thesen formuliert und ausgehangen hat, damit zum Streit und zur Diskussion, Streit oder Diskussion dieser Thesen eingeladen hat, und von vornherein erwartbar war, es werden Gegenthesen formuliert, und in diesem gemeinsamen Gespräch ist aber das Ziel ein gemeinsamer Erkenntnisprozess. Also das, was wir ganz Anfang mal hatten, eine mögliche dritte Ebene oder zumindest der nächste Schritt, eben im gemeinsamen Abwägen, Erörtern und aneinander Prüfen der Argumente. Und ich frage mich, ob es eben heute nicht viel mehr so wissenschaftliche Tätigkeit mit Durchsetzen der eigenen Thesen, gewissermaßen eben das, was sie auch gerade hatten, im Streit gewinnen, oder das Durchsetzen von hegemonialen Deutungseinheiten, ob das nicht viel mehr gerade der Zug von Wissenschaft ist. Also sich voneinander abgrenzen und inwiefern diese, das lese ich zumindest in der Disputation, wie es historisch als ein Format angelegt ist, eine sehr starke Betonung auf den gemeinsamen Prozess. Also den gemeinsamen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Und ich frage mich, würde ja jetzt auch noch ganz unpassend zu so anderen gesellschaftlichen Entwicklungen stehen, dass dieses Gemeinsame zunehmend verschwindet und viel mehr singuläre, vereinzelte Erkenntnisprozesse an Bedeutung gewonnen haben zumindest.
Erik Schilling: Also, das sind zwei Punkte. Zu den ersten kann ich vielleicht was sagen. Zu dem zweiten bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich dafür kompetent bin. Weil sie jetzt gesagt haben, der Advocatus Diaboli. Zum Beispiel in Disputationsprozessen im Mittelalter, das war eben eine ganz übliche Figur, in der Tat, die ganz klar eine Gegenposition zu den Thesen vertreten sollte, die derjenige, der eben die Disputation abschließen wollte, entwickelt hatte. Und das finde ich insofern sehr sinnvoll und auch klug als Institution, weil es den wissenschaftlichen Streit nach Regeln institutionalisiert. Also es ist klar, man rechnet damit, es gibt jemanden, der vertritt die Gegenposition, der macht das auch nicht, weil er böse ist oder irgendwie, weiß ich nicht, sauer ist auf mich oder sonst was, sondern der macht es, weil das einfach seine Rolle in dieser Auseinandersetzung ist. Und in dem gemeinsamen, entstehenden Gespräch kann man vielleicht dann, wie wir es ja auch schon gesagt haben, seine eigenen Thesen nochmal nachschärfen, präzisieren, nochmal besser formulieren, auch eine andere Form dafür finden und so weiter. Also das halte ich für einen sinnvollen Zugang und für einen, über den man vielleicht tatsächlich auch für die Gegenwart noch mal etwas stärker nachdenken könnte. Was den zweiten Punkt anbelangt, also die Frage, ob es so eine Art von Vereinzelung des Gespräches gibt, weiß ich nicht, wie kompetent ich bin, darauf zu antworten. Also, ich nehme auch das wahr, was aber ja Lukas eben sehr ausführlich ausformuliert hat, dass in der Wissenschaft sehr viel so nebeneinander gemacht wird. Jeder hat so seine ökologische Nische, in der er oder sie forschen kann, und darf, und oft sagt man dann auch, ja, gut, okay, der macht eben das und sie macht das, und das ist auch in Ordnung, sollen sie halt, ich mach mein Ding und interessiere mich nicht so sehr für das links und rechts. Und da sehe ich auch so, dass es vielleicht wünschenswert wäre, etwas stärker auch in den Austausch zu treten, und das würde auch bedeuten, manchmal in den Streit einzutreten und zu sagen, es ist aber ja vielleicht nicht sinnvoll, dass Forschungsgelder für diese ökologische Nische verwandt werden, sondern wir sollten uns eher auf die andere konzentrieren, und dann hätten wir einen veritablen Streit. Das würde dann aber auch nicht so sehr um das Gemeinsam gehen, sondern das wäre dann eben wirklich ein Streit, eine Auseinandersetzung darüber, welche Forschung denn betrieben werden soll und welche nicht, welche Methoden angewandt werden sollen, welche nicht und so weiter. Das wäre, glaube ich, etwas anders gelagert als das, was Sie jetzt beschrieben haben.
Judith Mahnert: Jetzt waren Sie Herr Haffert ja jahrelang in Debattiergesellschaften verortet und unterwegs. Würden Sie denn für sich selbst sagen, dass Ihnen das auch bei Ihren argumentativen Techniken oder Strategien das unterstützt hat oder damit zusammenhängt, dass diese Kultur oder auch dieses Format von akademischen Debattiergesellschaften, wie Sie ja auch eine gewisse Tradition vertreten, dass das eben wieder gestärkt oder verstärkt an Universitäten Platz finden sollte? Das ist an unterschiedlichen Universitätsstandorten sehr unterschiedlich ausgeprägt, ist meine Wahrnehmung.
Lukas Haffert: Ja, wundervoll, jetzt bekomme ich sozusagen auf dem Silbertablett die Gelegenheit für den Werbeblock. Fantastisch! Ja, natürlich, also jetzt ohne Witz. Ich sage immer zu Leuten, ich habe an der Uni am meisten gelernt im Debattierklub, weil die Sachen, die ich da gelernt habe, viel transferierbarer sind, als das, was ich in Vorlesungen gelernt habe. Und was so ein bisschen schade ist, ist, dass diese studentischen Debattierklubs, es gibt ja auch „Jugend debattiert“ an Schulen, vielleicht durch Fremd-, vielleicht auch ein Stück weit durch Eigenverschulden, wie die sich präsentieren, so ein bisschen im Verdacht stehen, bloße Rhetorik zu sein. So nach dem Motto, man lernt hier schön zu sprechen. Und bei aller Verteidigung des Schön-Sprechens, die wir jetzt die ganze Zeit betrieben haben, würde ich eben sagen, was man dabei vor allem lernt, ist zum Beispiel so etwas wie die Notwendigkeit, aufeinander einzugehen. Also es gibt ja Wettkämpfe, die werden bewertet und da gibt es eine eigene Bewertung für, das heißt im Debattieren „rebuttal“, die Auseinandersetzung mit der anderen Seite. Und wenn man das nicht macht, sondern einfach nur seine eigenen Argumente mitbringt und sagt, ich knall euch jetzt meine eigenen Argumente vor den Latz, dann wird das als nicht voll gelungen bewertet. Und insofern eigentlich die transferierbaren Sachen, die man daraus mitnimmt, sind eher solche Sachen wie: Wie kriege ich das hin, dass mein Argument relevant ist, und relevant wird es dadurch, dass ich zeige, wie sich das zu dem Argument der Gegenseite verhält. Ein Argument ist nicht für sich selbst einfach relevant, ich muss das relevant machen. Und das sind eigentlich inhaltliche Kompetenzen, die man da mitnimmt. Und insofern ja klar, also, das ist der Ort, wo man eine Praxis, die dann in unterschiedlichen Kontexten anwendbar ist, wunderbar erlernen kann. Natürlich.
Erik Schilling: Wenn ich auch ganz kurz einen Werbeblock einschieben darf, nicht für mich, sondern für den in meinen Augen besten Roman der letzten Jahre: Laurent Binet „La Septième Fonction du langage“, „Die siebte Sprachfunktion“ auf Deutsch. Da werden unter anderem Debattierklubs vorgestellt, und das in einer Weise, die ich sehr amüsant und auch aber sehr inspirierend und anregend finde. Also große Leseempfehlung, Binet „Die siebte Sprachfunktion“.
Judith Mahnert: Ja, dem kann ich zustimmen, Umberto Eco spielt ja auch eine ganz zentrale Rolle in diesem Roman. Was ich mich jedenfalls in Bezug auf die Ausrichtung der akademischen Debattenkultur frage, ist, wie, wir haben jetzt ganz viel über die Produktivität des Streitens und des argumentativen Reibens aneinander, so würde ich das mal noch bündeln gesprochen, und jetzt gibt es ja aber auch Vorschläge, Romi Jaster formuliert das immer mal wieder, sich grundsätzlich erst mal mit so einer Wohlgesonnenheit gegenüberzutreten. Also, sie orientiert sich da an diesem principle of charity und formuliert damit immer wieder die Idee oder die Perspektive, in allem, was die andere Person sagt, quasi im Zuhören und darauf-Antworten nicht die Differenzen und die Lücken und die, die Desiderata auszuführen oder sich darauf zu fokussieren, sondern, was ist der konstruktive Beitrag dessen? Wie kann ich das konstruktiv weiterentwickeln? Und was ich jetzt spannend und für unser Gespräch finde, das impliziert natürlich dieses gemeinsame Erkenntnisstreben wieder, dieses gemeinsame Weiterentwickeln von Argumenten. Aber es nimmt eben auch dieses, was Sie ja sehr oft formuliert haben, also dieses Schärfen von Argumenten, das nimmt das auch so ein bisschen zurück. Also weil dieser Reibungsaspekt meiner Ansicht nach oder dieses Konfrontative, was Sie aber als sehr produktiv jetzt immer wieder herausgestellt haben, das wird runtergefahren oder entschärft gewissermaßen. Was meinen Sie? Also ist der Weg so in der Mitte, oder würden Sie sagen, das ist Ihnen zu friedlich, so eine Wohlgesonnenheit, weil es eben dieses Schärfende umgeht?
Lukas Haffert: Also, ich müsste da jetzt erst mal noch mehr mich einlesen. Ich bin ein bisschen überrascht von ihrer Wiedergabe, insofern ich überhaupt nicht finde, dass ein Prinzip des Wohlmeines, des wohlmeinenden Verstehens einer Schärfung entgegensteht. Sondern es scheint mir also ein ganz klassisches Prinzip zu sein, dass man sagt, ich versuche zunächst zu sagen, hier ist, wie ich dich verstanden habe, ist das sozusagen: Fühlst du dich korrekt wiedergegeben in dem? Ja? Und hier sind die fünf Gründe, warum ich anderer Meinung bin. Ich finde, das steht in gar keinen Widerspruch zueinander, dass man eben, also ich lese darin zunächst mal sowas hinein wie, dass man eben keinen straw man attackiert. Man schiebt dem anderen nicht was unter, was man dann demolieren kann, sondern man versucht zu sagen, die stärkste mögliche Form Deines Arguments, mit der setze ich mich auseinander. Aber ich finde nicht, dass daraus folgen muss, dass diese Auseinandersetzung nicht sehr scharf und deutlich abgrenzend sein kann. Aber sie setzt sich eben wirklich mit dem Kern der Sache auseinander.
Erik Schilling: Ja, also völlig d’accord. Ich würde auch sagen, das ist eben eine ganz entscheidende Regel der Auseinandersetzung, dass man versucht, die Gegnerin, den Gegner so stark zu machen wie nur irgend möglich. Um dann aber natürlich im nächsten Schritt sich mit diesem möglichst starken Gegenargument seinerseits auseinanderzusetzen. Das würde ich sagen, ist eigentlich die bestmögliche Form von Streit. Sonst also klar, wenn man sagt, das Argument ist also, wenn man das Gegenargument gar nicht würdigt, sondern sagt, die Farbe Deiner Hose gefällt mir nicht, dann wäre das eben genau so ein Ausweichen, wo man die Gegenposition gerade nicht möglichst stark macht, sondern sich an irgendwas anderem aufhängt, was vielleicht mit der Position überhaupt nichts zu tun hat.
Judith Mahnert: Ja, vielen Dank für die Schärfung dessen, was so unser bisheriges Gespräch ausgemacht hat. Ich würde Sie vielleicht abschließend fragen wollen, auch nochmal in Bezug auf Ihre Sammlung an historischen Beispielen. Würden Sie denn meinen, dass derzeit zu wenig im Sinne von quantitativ gestritten wird, oder nicht schön genug?
Lukas Haffert: Die Antwort ist natürlich sowohl als auch. Also ich würde eben sagen, unterhalb des Radars der Öffentlichkeit wird zu wenig gestritten. Das ist ja so ein bisschen mein ceterum censeo. Aber ich finde, da bleiben oft Möglichkeiten ungenutzt, wo für Dritte, die zum Beispiel nicht die Möglichkeit haben, sich das alles noch mal selber durchzulesen, irgendwie die Differenzen einmal klar benannt und herausgearbeitet werden. Das passiert zu wenig. Da, wo es die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erreicht, da wird wahrscheinlich tatsächlich nicht oft genug den Regeln, die wir hier irgendwie versucht haben zu skizzieren, gefolgt. Oder da wird eben zu leicht ins Persönliche gewechselt, da wird zu wenig versucht, die stärkstmögliche Position zu attackieren. Da wird aber gleichzeitig, würde ich auch sagen, eben zu schnell die Nase gerümpft, wenn ein Argument eben vielleicht auch rhetorisch interessant ist oder formal interessant ist und nicht einfach nur Fakten, Fakten, Fakten auf den Tisch legt. Das ist jetzt weniger das Problem dieses Diskurses unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit, sondern da ist tatsächlich einfach mein Plädoyer wäre tatsächlich für stärker auf Auseinandersetzung hin orientierte Kommunikationskultur.
Erik Schilling: Ein Begriff, für den ich ganz gerne Werbung mache, ist der der Gelassenheit. Das finde ich recht wichtig in Auseinandersetzungen, egal eigentlich in welchem Forum. Dass man versucht, den anderen, aber auch sich selber nicht immer als Person angegriffen zu fühlen gleich. Sondern zu sagen, gut hier kommt ein Gegenargument, versuche ich das zu würdigen, versuche ich, mich damit auseinanderzusetzen, versuche ich es im besten Fall abzuräumen. Ja, aus dieser ganzen doch recht stark erregten Debatte auch in den Sozialen Medien und so weiter ein bisschen zurückzutreten, etwas gelassener mit Streit umzugehen, mit divergierenden Positionen umzugehen, Streit auch zuzulassen, Streit als etwas Produktives anzusehen. Und deswegen dieser Begriff der Gelassenheit vielleicht für den Abschluss, den finde ich ganz schön und davon würde ich mir manchmal etwas mehr wünschen.
Judith Mahnert: Ja vielen Dank für diese Schlussplädoyers auch nochmal und vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben für dieses Gespräch.